Texte

Einführung
zur Buchvorstellung und Ausstellung „Vanishing Universe“

Fotografien von Klaudia Dietewich

Neuer Kunstverein und Galerie, 71332 Waiblingen
Donnerstag, 1. Februar 2024

Als ich vor einiger Zeit in einer Ausstellung (Kunstbezirk im Gustav-Siegle-Haus, Stuttgart, 2023) zum ersten Mal mit einer Auswahl aus der Werkgruppe Vanishing Universe von Klaudia Dietewich konfrontiert war, hatte ich von der Künstlerin die Vorinformation, dass es sich dabei um eine Folge von Fotoarbeiten handle, die auf Eindrücke einer Reise durch die Antarktis zurückgehen. In der unmittelbaren Begegnung nun mit diesen Arbeiten spielte es für mich aber erstaunlicherweise zunächst überhaupt keine Rolle, in welcher künstlerischen Technik dieselben tatsächlich ausgeführt sind und welche Sujets oder topografischen Details sie betreffen mögen.

Die Reihe der dort gezeigten „Bilder“ – Bilder in einem weiteren Sinn verstanden als Bilderfahrungen der uns umgebenden Welt – enthoben sich in ihrer ephemeren Wirkung nämlich unversehens der meterhoch schweren Wände des klobigen Ausstellungsraums. Sie hätten ebenso gut wie Fotografien auch Malereien sein können, mit dem Schmelz nuanciert sich überlagernder Farblasuren. Oder aber Zeichnungen im fein ausdifferenzierten Wechselspiel von Licht und Schatten. Oder vielleicht doch druckgrafische Blätter, etwa die einer versierten Bildhauerin, deren vielgestaltige Oberflächenstrukturen die handgreiflich physischen Bearbeitungsprozesse auf den zugrundeliegenden Platten und Stöcken widerspiegeln.

Die aktuelle Publikation Vanishing Universe von Klaudia Dietewich greift die Unmittelbarkeit die Wirkung dieser Fotoarbeiten jedenfalls auf bemerkenswerte Weise auf. Schon von Weitem besehen gibt sie sich gerade nicht als lifestyletauglicher Fotobildband in Hochglanzmanier aus – allein schon der Titel auf dem Cover verschwebt in einer atmosphärischen Weite oder fast unsichtbar zum unteren Rand hin. Und trotz der erstarrenden kühlen Farbigkeit der Abbildungen von Wasser, Schnee, Eis, Fels und Gestein liegt es beim Blättern doch angenehm weich in der Hand, um auch als Buchobjekt deutlich zu machen, dass das, was wir mit den Empfindungen eines scheinbar menschenfeindlichen Lebensraumes verbinden, durch und durch mit unserer eigenen Existenz – und damit unserem Überleben – zusammenhängt.

Nicht von einem anderen Stern also, sondern ganz und gar aus dieser Welt stammen diese Bilder eines – keineswegs allmählich, sondern in rasender Geschwindigkeit –verschwindenden Weltalls (Vanishing Universe). Die Zerstörung ursprünglicher Natur als der existenziellen Lebensgrundlage des Menschen ist in der fotografischen Serie von Klaudia Dietewich jedoch auf eine eher still beobachtende Weise festgehalten, die ohne vordergründigen klimapolitischen Protestanspruch auskommt. Unter dem Eindruck ihrer Erkundungsreise durch die Antarktis sind vielmehr Aufnahmen entstanden, die zwischen gesehener Wirklichkeit einerseits und dem für völlig unwirklich Gehaltenen andererseits hin und her changieren. Die gewaltigen Elementarkräfte der Natur erscheinen so paradoxerweise gleichzeitig im Verlust ihrer eigenen Wirkmächte begriffen, den die anhaltende Umweltverschmutzung verursacht. Ein tiefes Erstaunen setzt ein, angesichts dieser urtümlichen Naturlandschaften und im selben Moment doch auch ein ungläubiges Staunen vor ihrem durch unser Verhalten beschleunigten Verschwenden und Verschwinden.

Immer wieder hat Klaudia Dietewich auf ausgedehnten Reisen Wegezeichen – etwa zufällige Rissbildungen im Straßenasphalt, Fahrbahnmarkierungen, Spuren von Autoreifen u.ä. – anhand von umfangreichen fotografischen Werkgruppen gesammelt. Auf Baryt-Abzügen oder auf Alu-Dibond nahsichtig fokussiert gleichen auch sie abstrakten Malereikompositionen oder gestischen Zeichnungen. Handelte es sich bei diesen Arbeiten jedoch um menschengemachte Bezeichnungsspuren, die sich – häufig mittels technischer Apparate vorgenommen – auf dem Untergrund des Erdbodens ausgebreitet haben, „zeichnet“ nun mit der Folge Vanishing Universe die Natur selbst (und ist von menschlichem Missverhalten in schmerzlichem Sinne gezeichnet). Nicht mehr Schichten sukzessive angelagert, sondern Jahr für Jahr, Tag für Tag – in umgekehrter Richtung – Sediment um Sediment unwiederbringlich abgetragen, gibt die Erde so in der Fotografie die inneren Gesichte(r) ihrer Vorvergangenheiten für einen kurzen Augenblick preis.

Zwischen zwei Polen, Arktis und Antarktis – Meer von Land umringt, Land von Meer umgeben –, inmitten der einstmals unterstellten Ewigkeit des Eises und einem unaufhaltbaren Verschwinden: Wie fahle Traumgebilde ragen die lavaschwarzen Landmassen aus den Schneefeldern empor, feingratige Silhouetten an den hoch aufgetürmten Berggipfeln, die abwärts in ein weiches Weiß zerfallen, sowohl die See darunter als auch der Himmel darüber ruhig verhaltene Flächen. Rotalgige Lichter glimmen unter den riesigen Eisschorfen hervor, ein bedroht-bedrohliches Niemandsland öffnet sich da vor uns – jenes inwendige Leuchten, in dem unvermutet Jahrmillionen verborgenes Pflanzenleben möglich ist, das gut und gerne auch ohne den Menschen hätte auskommen können.

Clemens Ottnad

Einführung
zur Ausstellung „regarde“

Fotografien von Klaudia Dietewich

Orangerie im Hofgarten, 74592 Kirchberg/Jagst

Sonntag, 11. September 2022

Kennen sie das, sie sind nach einem Regenschauer unterwegs in der Natur, unterwegs in der Stadt, ganz egal wo, ob im tiefsten Wald oder im verwinkelten Hinterhof zwischen grauen Hausmauern, sie bewegen sich auf eine Pfütze zu und aus einem bestimmten Winkel spiegelt sich der Himmel darin, das ist jedes Mal ein Schauspiel, ist jedes Mal ergreifend und irgendwie auch ein großer Trost den Himmel in einer Pfütze zu sehen und schon die Kinder wissen, wenn man sich vor der Pfütze klein macht, sieht man mehr vom Himmel.
Und wenn wir auf die Orangerie hier im Hofgarten zulaufen, wenn wir auf das Ausstellungsgebäude zu kommen sehen wir die zweiteilige Arbeit ´regarde le ciel´ von der Künstlerin Klaudia Dietewich, Schau in den Himmel zu Deutsch und tatsächlich spiegeln sich nicht nur die Bäume und Büsche wieder, sondern auch der Himmel wird von den Fensterscheiben der Orangerie wiedergespiegelt. Vermutlich stand das rasch hin gesprühte Graffiti auf dem Boden, irgendwo in Paris und die aufmerksame Künstlerin hat es mit ihrer Kamera festgehalten.
Seit dem Klaudia Dietewich ihre Arbeit als Sozialarbeiterin vor vielen Jahren aufgegeben hat, seitdem sie Malerei und Zeichnung und auch das Siebdrucken komplett eingestellt hat, seitdem hat sie ein künstlerisches fotografisches Werk geschaffen, dessen Bedeutung nun immer stärker hervortritt, da es sich abseits von gängigen Modeerscheinungen kontinuierlich entwickelt hat.
Die Künstlerin fotografiert Spuren, sie hält ihre Kamera, wo sie geht und steht auf den Erdboden, sie fotografiert Straßenstücke und Löcher und Schrammen im Gehweg, ihr Interesse gilt den Verletzungen der Straße, dem schadhaften und geflickten Asphaltstück, nicht dem Makellosen, so bildet das rissige Asphaltstück am Straßenrand den Nährboden für Kunst. Die Künstlerin findet das Aufregende und Bemerkenswerte in ihrer urbanen und nächsten Umgebung an der Bordsteinkante in Stuttgart Degerloch, genauso wie im weitentfernten rissigen Mauerstück in Shanghai.
Heutzutage ist gerade das Glatte und Makellose die Signatur der Gegenwart und ich frage mich warum nur finden wir das Glatte so schön?
Es verkörpert die heutige Positivhaltung, in besonderem Maße mit unseren superglatten Smartphones folgen wir der Ästhetik des glattgebügelten, nicht nur Äußerlich, sondern auch inhaltlich wirkt jegliche Art von Kommunikation geglättet, es gelten nur noch Positive Likes, ein Dislike, also ein gefällt mir gar nicht – gibt es nicht mehr in der Welt der Influencer auf Instagram. Sharing und Like sind ein kommunikatives Glättmittel, Negatives wird eliminiert, weil sie Hindernisse für unsere beschleunigte Kommunikation darstellen.
Wie wohltuend kommen da die Wegstücke von Klaudia Dietewich daher, einmal entdeckt und fotografiert, werden sie zu Hause am Computer geordnet und katalogisiert, Akribisch hält die Künstlerin Ort, Zeit und Datum für jedes dieser Fotoobjekte fest und beschriftet diese nach dem Druck auf Alu-Dibondplatten detailliert nebst Signatur auf der Rückseite.
Immer also wählt die Künstlerin sorgsam das Material, wählt den Ausschnitt,
wählt aus, nach Kriterien der Malerei, von der sie herkommt, sie wählt den komponierten Ausschnitt der nach den Gesetzmäßigkeiten ihrer Kunst funktioniert so aus, das Farbe und Form stimmen und im spannungsreichen zueinander stehen. Lange Arbeitsphasen von großer Intensität gehen den so leicht daherkommenden Tafeln voraus, Stunden und Tagelanges auswählen und einkreisen der Motive.
Sehen – Denken – Entscheiden.
Und somit macht Klaudia Dietewich eine nebensächliche Begebenheit die unter uns, auf der Straße und unter unseren Füßen liegt zum Bild und zum Kunstwerk.
Und was sich nicht alles entdecken lässt auf den in mehrere kleingruppen aufgeteilten Wegstücke. Ein brüchiger gelber Streifen, mit schwarz entschlossenem Punkt auf grün aufgerautem Grund aus Pittsburgh, eine aufsteigende kleine Atomwolke aus Nagasaki, ein fünfteiliger Federbusch aus Oldenburg vor blau geometrischem Grund, ein umgeworfener unförmiger Tisch aus Istanbul auf dunkelrotem Teppich, eine herrlich gelbe Socke aus Buenos Aires, ein schwarzer Klecks mit kleinen Freunden aus Tokio und ein herabhängendes Ästchen aus Wissembourg in Frankreich, mit einem letzten Blatt dran. Aus Würzburg winkt uns ein kleines Engelchen herüber und der schiefe Turm von Pisa steht nun in Paris.
Sie sehen es lässt sich leicht eine Menge in die Dinge hineinlesen, ohne dass sie dadurch einen echten Sinn oder Unsinn erhalten.
Diese Zeichen weisen auf nichts hin. Sie stehen für sich selbst und sind frei. Und doch regen sie meine Phantasie an, und tun dies noch mehr, wenn ich erfahre, woher diese wundersamen Wegzeichen und Asphaltzeichnungen kommen und wie universell sie letztlich sind!
Rote Punkte
Rote Punkte stehen im Kunstbetrieb für einem Verkauf, rote Punkte stehen also wenn man so will für Erfolg, für einen Erfolg der Künstlerin oder des Galeristen. Vor Jahren war ich auf einer Kunstmesse vertreten und 5 Tage lang beobachtete ich haarscharf das Geschehen auf den Galeriekojen gegenüber.
Die Woche ging schleppend vorüber, war anstrengend und die Verkäufe, sowohl in der eigenen und den benachbarten Kojen waren träge und ließen sehr zu wünschen übrig.
Am Sonntagabend aber, es mag wohl nach 17Uhr gewesen sein, tat sich erstaunliches, ich beobachtete die zwei hübschen Mädels der durchaus Namhaften Galerie Visasvis und sie klebten fleißig rote Punkte, an fast alle Bilder, die ausgestellt waren.
Ich stürmte hinüber, um zu gratulieren und freute mich ob der Flut an Roten Punkten, …………die beiden Mädels grinsten nur und eine sagte freundlich, der Chef habe gerade angerufen und befohlen rote Punkte zu kleben….
Irritiert und enttäuscht ging ich zurück wusste fortan: Ich bin im Kindergarten.
Diese kleine, eher lachhafte Episode hat nichts zu tun mit der Arbeit von Klaudia Dietewich, sie zeigt einzig und allein, dass Lug und Trug und viel heiße Luft auch auf dem Kunstmarkt, wie überall zum Tagesgeschäft gehören.
Gleich nachdem das Tempelhofer Feld in Berlin im Jahr 2010 für die Öffentlichkeit frei gegeben wurde, reiste die Künstlerin genau dort hin, um zu fotografieren, vermutlich hat sie vieles gesichtet, vieles entdeckt und noch mehr fotografiert. Darunter auch eine ganze reihe von Roten Punkten, 20 davon hat sie an der Stirnwand dieses Raumes und ums Eck herum hängend platziert. Auf besonders dickem Büttenpapier ausgedruckt kommen alle Roten Punkte jeweils anders daher, niemals sind sie gleich rund und kaum einer ist nur reines Rot, hier ein schwarzer Punkt auf 6 Uhr, dort eine graue Linie auf Halb Acht, hier ein dunkles Kreuz 3/ 4 Fünf und hier eines quer durch die glühende Sonne.
Woher die Spuren kommen mögen, spielt gar keine Rolle mehr, ob von Bremsspuren eines Fahrrads oder von Turnschuhen, von Skateboards oder Dreirädern, das ist ganz egal, entscheidend ist nur ihre grafische Wirkung, ihre Zinnoberrote Farbe, ihre immergleiche Anordnung, mittig auf dem starken Bütten, der sich wiederholende Sonnenkreis, sich immer anders wiederholend ist es ein Ansammlung von Kraft und Energie, das ist der Stil der Künstlerin, an einer Sache dran zu bleiben, genau zu sehen und uns damit zu konfrontieren, einer Sache auf den Grund gehen, wieder und wieder, und uns fragend ob wir mitgehen auf die Suche nach den kleinen Unterschieden, ob wir mitgehen nach den reizvollen Entdeckungen im Rot und uns fragend was ein Bild oder eine Bildreihe kann? Was leisten die Farben? Was bewirken sie im Raum?
Dem bewussten Betrachter geben sie viel und da sie sich auf einem ehemaligen Flugfeld befinden, einem Flugfeld, das dazu gedacht war in den Himmel abzuheben passen sie wieder so gut zu unserem anfänglichem Himmelsblick.
Metalimnion
Ich glaube manche Zeichen können nur von Klaudia Dietewich gefunden werden, können nur von ihr entdeckt werden oder noch eindeutiger gesagt, sie sind nur deshalb existent um von ihr gefunden zu werden!
Mit der Serie Metalimnion zeigt uns die Künstlerin erneut das ihre Fotografien nicht einfach einen Ausschnitt aus der Sichtbaren Welt, der sichtbaren Erscheinungen zeigen, sondern vielmehr die visuellen Spuren der Zeit abbildet, in der sie entstanden sind.
Metalimnion ist der verwirrende und zunächst nichtssagende Titel einer aus über 20 Arbeiten bestehenden Serie und sechs davon hat die Künstlerin hier her mitgebracht und auf dem Fußboden aufgereiht und ausgebreitet.
Metalimnion umschreibt eine Art thermische Sprungschicht……., die mittlere Schicht eines stehenden Gewässers welche die obere, wärmere Schicht von der tieferliegenden kälteren Wasserschicht trennt, so die erklärende Betrachtung des Begriffes auf Wikipedia.
Und tatsächlich glauben wir uns auf Anhieb in einer Unterwasserwelt, die grünlich türkisfarbene Flächen erscheinen wie Unterwasseraufnahmen oder Tiefenschnitte ins ewige Eis. Wir glauben Algen, kleine Wassertierchen, Amöben und kleine Fischlein zu erkennen, wähnen uns zweifelsfrei unter Wasser.
Und bei so manchem Ausschnitt meine ich ein in Kunstharz gegossenes Urtier, ein geflügeltes Insekt, ein urzeitliches Fossil, langsam zeitlos treibend im grünlich türkisenen Farbraum zu erkennen.
Was wir allerdings in Wirklichkeit sehen ist ernüchternd und faszinierend zugleich, was wir sehen sind keine Pantoffeltierchen, sind keine Fossilien und
sind überhaupt keine Lebewesen, sondern sind schlicht und einfach Verschmutzungen, Bremspuren, Klebereste und vieles mehr, auf einer grünlich durchsichtigen Glasscheibe. Es handelt sich um die Glasscheiben der Oberlichter des Kunstmuseums am Kleinen Schlossplatz in Stuttgart.
Das kann man nicht erahnen, über den Titel leitet uns die Künstlerin auf einen Irrweg, wobei niemand, ohne nachzulesen weiß, was Metalimnion heißt. Dennoch sie führt uns sozusagen auf Eis.
Ist dies Wichtig?
Nein und Ja, vielleicht ist es ein Spaß, den sie sich macht, indem sie uns Bremsspuren und Kaugummireste als Urtierchen verkauft, oder aber sie stellt damit ihre Kunst in Frage und vor allem unsere Betrachtungsweise. Ich muss nicht wissen, dass es sich hier um Klebereste handelt um mich in diesem Bild verlieren zu können, um in diesen endlosgrünen Raum tief einzutauchen.
Kunst konfrontiert uns durch das gesehen werden, durch das Schauen auf Kunst und auf Die Welt. Durchs Gehen, Fahren und Reisen bewege ich mich durch die Welt und durchs Schauen auf Kunst bewege ich mich durchs Bild, oder auf der Skulptur und bleibe doch stets bei mir. Was ich allerdings selbst im Gepäck habe, ist mitentscheidend beim Betrachten von Kunst und beim Entdecken der Welt. Also ist meine Frage Was ist da?
Meine Damen und Herren, Was ist da ? , dies ist die Frage die ich mir stelle wenn ich in eine Ausstellung gehe . Und mit dieser Frage versuche ich mir nichts zu verbauen, sondern im Gegenteil ich versuche mich zu öffnen, mich zu öffnen und mich eventuell auf ungewohntes einzulassen. NICHT IMMER GELINGT MIR DIES.
Denn so wie der Künstler vor Beginn der Arbeit vieles im Gepäck hat, genau so habe ich als Betrachter vieles, als „Kopfgepäck„ mit dabei, mal bin gut und mal bin ich schlecht gelaunt , oder gereizt und gleich ist mir alles zu viel und es reicht schon eine unangenehme Farbe um mich in Rage zu bringen, ein andermal bin ich voller Humor und schmunzle über vieles, was sehe.
So habe ich beispielsweise bei der Arbeit DESOBEISSANCE die im Hof draußen an der Mauer lehnt sofort einen direkten Bezug zur Erschießung der Aufständischen von Francisco Goya, gerade an dieser Mauer, die so brüchig und abgeschabt daherkommt, gerade da erscheint mir dieser Schriftzug des ´ungehorsamen´ wie eine zeitgenössische Antwort auf das 1814 entstandene Bild des großen spanischen Künstlers den ich sehr verehre. Und Ungehorsam, also DESOBEISSANCE ist in Zeiten wie diesen geradezu eine Bürgerpflicht!
Mein kleiner Rundgang durch die Ausstellung endet im Keller des Hauses, dort zeigt uns die Künstlerin zwei Videos: Zum einen sehen wir das blaue Wasser
eines Swimmingpools, indem sich das Licht des Himmels in endlosen Wellenbewegungen bricht und wieder schauen wir in den Himmel obwohl wir den Kopf nach unten richten.
Und zum anderen sehen wir dem Himmel über Degerloch nun hier in die zugemauerte Fensternische dieses Kellerraumes projiziert. Wenn man genau hinhört, vernimmt man ein paar Kinderstimmen und ab und an fliegt ein Vogel durchs Bild. Mit diesen beiden Blicken in den Himmel schließt sich der Kreis dieser Ausstellung „regarde“ und mit unserem imaginären Blick in die Pfütze.
Durch die informelle Vorgehensweise der Künstlerin entstehen tiefgründige Bilder. Der sensible fotografische Pigmentdruck auf dem glänzenden Metall ist sehr differenziert gewählt und reicht von feinen Lasuren bis hin zu fast pastoser Schwere.
Die gegenstandslos angelegten Bildausschnitte können im Betrachter eine Sehnsucht nach den Rätseln der Natur, vielleicht auch nach deren Kraft, dem Spiel der Elemente oder einer ambivalenten Undurchdringbarkeit hervorrufen. Immerfort gilt es Neues zu entdecken: organische Formen, gekürzte Schriftzeichen, Farbflecke und Spuren, die nach den nächsten Regen schon wieder verschwunden sein können.
Wir alle wollen Spuren hinterlassen und tun dies unablässig zum Teil verbunden einer großen Sehnsucht nach Echtheit.
Diese Sehnsucht nach dem eigentlich Unmöglichen, nach dem, was vielen in ihrem alltäglichen Leben fehlt – die Leidenschaft – die Entschlossenheit den Lauf der Dinge zu beeinflussen – der Wunsch, eine andere zu sein, sich zu verwandeln und sich aufzumachen nach dem Land der Wunder und Überraschungen, all das und noch vieles mehr ist durchaus im Leben von Klaudia Dietewich zu finden, doch war und ist sie im Team mit ihrem Partner Raimund imstande diese Sehnsucht in eine ungeheure Kraft umzuwandeln und genau diese Kraft finden wir auch in ihrer Kunst. Die mich immer wieder aufs Neue herausfordert, überrascht und beeindruckt.
Herzlichen Dank

Helm Zirkelbach

Spurenlese – Über die Bedeutung der Spurensuche

 

So wie der Lyriker aus der Banalität der Alltagssprache – durch sorgfältige Wortwahl und dank seines Gespürs für Rhythmus und Reim – Essentielles zu benennen weiß und im Gedicht zwischen den Zeilen einen Echoraum für Lebensfragen schafft, so zieht die Künstlerin Klaudia Dietewich aus dem Unprätentiösen und Nebensächlichen der vom Menschen gestalteten Lebensräume ihre dichten und assoziationsweckenden Wirklichkeitsausschnitte. Ihr geschärfter Blick lässt sie auf Straßenbelägen und an Hausmauern Gebrauchsspuren und Relikte früherer Nutzungen und Markierungen entdecken, die in der Isolation ihrer lakonischen Fotografien die Qualität gekonnt komponierter abstrakter Kunst erhalten und – über sich hinausweisend – Grundsätzliches ins Bild setzen. Aus einem Ausschnitt überlagerter Verkehrsleitlinien auf Asphalt entsteht beispielsweise der Nachklang suprematistischer Konzepte; das geometrische Gefüge darf also über die ausgewogene reingeometrische Komposition auch als Anlehnung an die avantgardistische Suche nach energetisch-geistiger Absolutheit im Bildkonzentrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Des Weiteren finden sich auf Klaudia Dietewichs fotografischen Aufnahmen Teerflickstellen festgehalten, deren Graphik den gestischen Linien in der Kunst des Informel verwandt ist. Kratzspuren auf Fassaden zeigen die Anmutung von atmosphärischen Landschaften, Farbschlieren erinnern an Satellitenbilder der Erdoberfläche, Putzrisse lassen Flussläufe und Deltas erahnen.

Die Schönheit dieser allgegenwärtigen Nichtigkeiten liegt im Auge des Betrachters, der – falls hierfür im realen Kontext unempfänglich – vermittels der versierten Motivauswahl und der subtilen gestalterischen Umsetzung durch die Künstlerin einen inspirierenden Zugang zu den Spuren in seiner unmittelbaren Umgebung erhalten kann. Fehl- und Flickstellen sind nicht mehr als Mängel zu werten, sondern als Bereicherung des alltäglich Oberflächlichen. Den Mensch gemachten Spuren nachzugehen lohnt, denn in ihnen sind sowohl der Wille zur Nützlichkeit manifestiert als auch der kreatürliche Zufall. Sie sind Zeugen der kulturellen Ausprägung einer Gesellschaft, so der Vergleich von Spuren aus verschiedenen Städten, Ländern, Kontinenten erhellende Aufschlüsse über jeweilige ästhetische Eigenheiten und Vorlieben erlaubt. Die oftmals absichtslos vorgenommen Flickarbeiten im öffentlichen Raum und die durch mechanische Einflüsse zufällig entstandenen Spuren vormaliger Nutzung sind wortlose Zeugen eines generellen Gestaltungswillens.

Zum Kunstwerk werden diese Phänomene im öffentlichen Raum erst durch Entdeckung, gestalterische Fokussierung und kluge wie vielschichtige Mise en Scène. Die künstlerische Übersetzung des alltäglich Nebensächlichen in eine Bildsprache des übergeordnet Relevanten kommt einer Nobilitierung der Normalität gleich. Nach Inaugenscheinnahme der Inszenierungen von Klaudia Dietewichs Wirklichkeitsextrakten wird für die Betrachter ihrer Kunst der nachmalige Gang durch die vertrauten Alltagsgefilde von einer neuen Aufmerksamkeit bestimmt. Versiert und mit geschärftem Blick begeben wir uns selbst auf Spurensuche im Gewohnten und erhalten so eine nie gekannte Bindung zum bisher unbeachtet Beiläufigen. Die entdeckten und angeeigneten Spuren werden zu Vertrautem und schließlich haben sie Teil am diffusen Gefühl von Heimat. Sie werden zu Parametern der Verortung am Ort der täglichen Verrichtungen und somit Teil der individuell unspektakulären Lebensgestaltung.

Aus kunsthistorischer Sicht knüpft Klaudia Dietewichs Spurensuche und Transformation an avantgardistische Errungenschaften der frühen Moderne und der Nachkriegsavantgarde. Damals hatten verschiedene innovative Künstlerpersönlichkeiten den akademischen Kunstbegriff gesprengt und die geforderten neuen Bildwirklichkeiten unter Einbezug von kunstfernen Materialien sowie mittels unorthodoxer Verfahrensweisen hervorgebracht. So integrierten Künstler wie Pablo Picasso, Georges Braque, Juan Gris in Paris noch vor dem 1. Weltkrieg und die Künstler des Zürcher DADA wie auch Hannah Höch, Kurt Schwitters u.a. seit 1916 Alltagsschnipsel in ihre Collagen und Ölgemälde. In der Zwischenkriegszeit machte Max Ernst für sich die Technik der Frottage fruchtbar und schuf ein Konvolut von faszinierenden Abrieben alltäglicher Objekte und unscheinbarer Oberflächen, die er mit gekonnten zeichnerischen Ergänzungen zu surrealen Phantasmen zu steigern wusste. Richard Hamilton setzte als Vorreiter der Pop Art seit Mitte der 1950er Jahre in seinen collagierten Zeitzeugen auf die «Macht der gefilterten Bilder» aus der Konsumwelt, und in den 1960er Jahren praktizierte die Pariser Avantgardekünstler des Nouveau Réalisme in ihren Werken einen unmittelbaren und provokanten Einsatz von Fundstücken und Spuren. Namentlich Jean Tinguely mit seinen Métamatics, Jacques Villeglé mit seinen Décollage und Déchirages, Arman und Daniel Spoerri mit ihren Accumulation und Assemblages stellten den Akt des klassisch-eigenhändigen künstlerischen Gestaltens subversiv zur Debatte und sorgten mit ihren berüchtigten Aktionen für Aufsehen. Außerdem setzt sich insbesondere die Landart mit dem Faszinosum Spuren auseinander, sei es dass Phänomene in der Natur durch den künstlerischen Eingriff konzentriert werden (Andy Goldsworthy), oder sei es dass sich Künstler darauf verlegen, selbst Spuren vor Ort zu kreieren (Michael Heizer, Richard Long, Robert Smithson) beziehungsweise ihre temporäre Anwesenheit in konkret materiellen, akustischen oder verbal-imaginären Spurzeugnissen zu dokumentieren (Lothar Baumgarten, Hamish Fulton), um später diese künstlerischen Extrakte als Exponate einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In diesen Kanon der avantgardistischen Spurenleser und Spurentransformer gliedert sich Klaudia Dietewich mit ihrem Schaffen ein und setzt innerhalb dieser variantenreichen künstlerischen Spurenaneignungen und -verwertungen neue gestalterische Akzente.

Dr. Gabrielle Obrist, Zürich, 2016

Statt Ansichten – Ausstellungsreihe STADT/LAND/SCHAFT

Galerie im Kornhaus, Kunstverein Schwäbisch Gmünd e. V. – 7. Nov 2014

 

Begleitend zur Landesgartenschau 2014 der Stadt Schwäbisch Gmünd setzte sich der Gmünder Kunstverein in einer Ausstellungsreihe mit den Begriffen Stadt und Garten auseinander. Wir gingen davon aus, dass ein Garten ist ein abgegrenztes Stück Land ist, privat genutzt zum Anbau von Erträgen oder auch für künstlerische, spirituelle oder therapeutische Zwecke. Ein Garten entspricht nicht der Natur. Er ist immer künstlich angelegt, kontrolliert; er ist gezähmte, geformte und kultivierte Natur. Er verdichtet auf begrenztem Raum Pflanzen und Landschaftsformen, ist also gestaltetes Abbild.

Auch Städte, so haben wir uns gedacht, sind fest umgrenzte Siedlungen, verdichtete Kulturräume, in denen Menschen in bestimmten sozialen und räumlichen Organisationen leben. Die Stadtlandschaft (urbanscape) gleicht in ihren geplanten, häufig jedoch auch unkontrolliert wachsenden und sich überlagernden Räumen und Beziehungsgeflechten in Verbindung mit kontrollierten städtebaulichen und administrativen Organisationsstrukturen dem Konzept des Gartens.

Wir haben also in der Ausstellungsreihe STADT/LAND/SCHAFT unter Einbeziehung vielfältiger natürlicher, kultureller und sozialer Aspekte den Strukturen von landscape und urbanscape nachgespürt. Den Katalog mit allen beteiligten Künstlerinnen und Künstlern sowie Texten und Reflexionen zum Thema kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. Noch gibt es Exemplare für 10 € zu kaufen.

Die Gartenschau ist zu Ende, wir haben einen letzten spannenden Beitrag zu bieten: Klaudia Dietewichs STATT ANSICHTEN.
Alle Natur, alle Bezüge zur Pflanzenwelt, zum Wachstum, wie sie noch in der vorhergehenden Ausstellung von Hannelore Weitbrecht anklangen, sind nun gänzlich herausgenommen. Viel grau, metallisch glänzend sehen wir vor uns. Platten in quadratischen oder rechteckigen Formaten scheinen ein wenig vor der Wand zu schweben, changieren zwischen Bild- und Objektcharakter, sind in Gruppen geordnet. In einer Bodenarbeit befinden sich gleichförmige Blöcke in einer strengen, linearen Reihe. An der Wand hängen kaum auf ihre ursprüngliche Bedeutung und Herkunft zurückzuführende Gegenstände, Fundstücke. Und auf einem Monitor laufen Szenen aus den U-Bahnhöfen der Weltmetropolen.

Die hier ausgestellten Arbeiten bieten in ihrer reduzierten Farbpalette und ihrer geometrischen Strenge der Anordnung und Gruppierung der Formate einen bereits sehr vordergründig ansprechenden Reiz in dem zuweilen doch dominanten mittelalterlichen Raum mit seinen schweren, dunkelbraunen Eichenpfeilern und den vielen Sprossenfenstern. So angezogen von dem gesamten Ensemble versuchen wir als Betrachter dann als nächstes, herauszufinden, was wir hier eigentlich sehen. Es fiel mir schwer, meine diesbezüglichen Gedanken in eine stringente Ordnung zu pressen. Ich möchte Sie daher teilhaben lassen an meinen Überlegungen und Assoziationen zu einzelnen Stichworten, die meiner Meinung nach mit dieser Ausstellung in Zusammenhang stehen:

Spur
Woher wissen wir, dass es hier in unsere Gegend mal ein Meer mit schneckenförmigen Lebewesen, den Ammoniten gab? Von den meisten Ammoniten, die wir als Fossilien in den Schieferplatten, beispielsweise aus Holzmaden, finden, ist nichts mehr übrig, die Teile des Körpers und der Schale wurden vollständig zusammengepresst. Dies geschah jedoch in weichem Schlamm, der erst später zu Stein verhärtete. Was wir von dem Tier hier also noch sehen, ist nicht sein Körper, sondern der Abdruck, die Spur, die dieser Körper im Schlamm hinterlassen hat.  Der Begriff Spur bezeichnet ursprünglich nur den Fußabdruck. Wenn Sie ebenso eifrig den Sonntagskrimi im Fernsehen schauen, wie ich das tue, denken sie aber bei Spur sofort an alle Hinterlassenschaften, welche die Anwesenheit von Personen und möglicherweise auch den Tathergang verraten.

Klaudia Dietewich sammelt Spuren. Nicht mit kriminalistischem Spürsinn, sondern als künstlerische Methode. Was Sie hier an den Wänden und am Boden sehen, waren zunächst fotografische Detailaufnahmen von unscheinbaren, vielleicht auch heruntergekommenen Orten. Fahrbahnmarkierungen, Ölflecken, Ausbesserungen im Straßenbelag, Schmutz. Wenn jemand in letzter Zeit am Gmünder Busbahnhof ankam, fiel sein Blick sicherlich in den seltensten Fällen auf gelbe Markierungen im Asphalt. Mir jedenfalls ist diese Markierung im Trubel der Gartenschau bzw. deren Vorbereitung im letzten Jahr nicht aufgefallen. Die Arbeit, die auch auf der Einladungskarte zu sehen ist, entstand im Oktober 2013. Klaudia Dietewich scheint in einer Stadt Motiven nachzuspüren, an denen die meisten Menschen achtlos vorüber gehen, die sie möglicherweise sogar als hässliche Flecken ablehnen. Sie zeigt uns damit in dieser Ausstellung STATT ANSICHTEN, so der Titel der Ausstellung.

Ansicht lautet also das nächste Stichwort.
Eine Ansicht ist zunächst einmal eine Illustration, Abbildung, Darstellung. Also eigentlich ein Bild. Bereits hier schleicht sich dann eine Uneindeutigkeit ein, der wir in den Arbeiten von Klaudia Dietewich weiter begegnen werden. Eine Uneindeutigkeit, die letztlich auch zwingend notwendig ist. „Wenn ein Werk ein-eindeutig ist, ist es kein Werk der Kunst“, so die These von meinem ehemaligen Lehrer Professor Paul* Kästner in Heidelberg.

Natürlich kennen wir Ansicht auch in der Bedeutung von Aspekt oder Meinung. Aus dem konkreten Standpunkt eines Betrachters bei einem visuellen Erlebnis wurde dann eine Position im abstrakten, kognitiven, psychologischen Sinn. Und Ansicht ist auch Anschauung, sowohl im Sinne von Auffassung, Wahrnehmung, als auch im Sinne einer Annahme. Die unmittelbare Erkenntnis sinnlicher Gegenstände lässt sich auch als innere Anschauung, als unmittelbare Erfassung seelischer Zustände und Prozesse verstehen.

Klaudia Dietewich, so können wir also vermuten, nimmt visuelle Phänomene zum Anlass, Position, einen Standpunkt zu beziehen und ihre Sicht der Welt mitzuteilen. Hier sind wir dann auch bei Statt mit Doppel-Te im Titel der Ausstellung. Nicht allein die Stadt, die urbane Landschaft die stets hier Motiv ist, steht im Vordergrund. Hinter diesem Wortspiel steckt auch der Wunsch nach einer anderen Ansicht, einem Perspektivwechsel, einem Blickwinkel, der die gewohnten Wege verlässt.
Womit wir beim nächsten Stichwort wären:

Weg
Spur hat ja auch die Bedeutung der Fahrspur. Selbst hier wieder mit starkem, regionalem Bezug: in kaum einer anderen Stadt der Umgebung lässt sich derzeit deutlicher darstellen, was passiert, wenn der Verkehr gezwungen wird, sich ständig neue Spuren zu suchen. Der Verkehrsfluss stockt, der Weg wird zur Tortur. Und in dieser Umorientierung und der Verlangsamung nehmen wir möglicherweise auch wieder den Weg in seiner Eigenheit wahr. Weg kommt von bewegen, meint einen Streifen in der Landschaft, auf dem man sich von einem Ort zu einem anderen bewegt. Zum Stichwort Weg könnten wir hier also auch die Stichworte Bewegung und Reise anführen.

Die Bodenarbeit in dieser Ausstellung markiert einen solchen Weg. Was hier reduziert und in lineare Ordnung gebracht an die Geschwindigkeit einer Start- oder Landebahn gemahnt, ist in Wirklichkeit Ergebnis eines monatelangen Unterwegsseins. Mit dem Fahrrad umrundete Klaudia Dietewich halb Europa, von England über Skandinavien zum Schwarzen Meer. Die Langsamkeit dieser Fortbewegung ermöglicht erst den Blick für die unscheinbaren Details, die hier als Repräsentanten all dieser Orte, Straßen und Städte dienen. Spuren aus vielen Orten markieren eine lange Reise. Bewegung ist auch ein Thema der Videoarbeit, die Sie hier sehen. Bewegung, in der Bewegung auch Begegnung und zuweilen Ansätze von Kommunikation. Alles gefilmt aus einem distanzierten, fast voyeuristischen  Blickwinkel, einer Spionage- oder Überwachungskamera gleich, die zu einem Blickwechsel, einer Änderung der aus der Filmästhetik oder aus dem bewusst gerichteten Blick gewohnten Ansicht 
geradezu zwingt.
Sind Klaudia Dietewichs Arbeiten in ihrer rätselhaften Verkürzung also Zeichen?

Zeichen
Ein Zeichen steht immer für etwas anderes. Ist etwas sicht- oder hörbares, das als Hinweis gedacht ist, der Kenntlichmachung dient, mit einer Bedeutung verknüpft ist.
Wir können diese Ausstellung jedoch auch für uns erschließen, wenn wir von all diesen Verweisen und Bezügen nichts wissen. Alle diese Arbeiten wirken immer auch, und das habe ich eingangs schon hervorgehoben, allein durch ihren ästhetischen Reiz.

Damit sind wir beim letzten Stichwort angelangt:

Komposition
Ungeachtet der technischen Ausführung, den Fotografien, die mittels Pigmentdruck auf Aluplatten übertragen wurden, wodurch dieser spezifische metallische Glanz entsteht, besteht die eigentliche künstlerische Arbeit von Klaudia Dietewich neben der konzeptuellen Entwicklung, die in den Motiven und ihrer Präsentation steckt, in der Auswahl von Bildausschnitten und deren Anordnung. Hier unterscheiden sich die Objekte an Wand und Boden in ihren Kompositionsprinzipien letztlich nicht von der Malerei. Die Gewichtung der einzelnen Bildelemente, die Dynamik oder Statik der Richtungen in den Bildobjekten, der Einsatz der Farben, die gerade in ihrer Reduktion noch an Bedeutung gewinnen – so sehr, dass ein grade mal 30 cm großes gelbes Fundstück während dem Aufbau der Ausstellung an allen möglichen Stellen ausprobiert wurde, um dann schließlich wegen seiner zu dominanten Wirkung wieder abgehängt zu werden – diese formalen Gestaltungselemente bilden das eigentliche Gerüst, auf dem die Inhalte, denen ich in meinen Ausführungen ein wenig assoziativ nachgegangen bin, sicher getragen werden.

Klaus Ripper

Augenalphabete, oder:

Vom Finden des Unbeachteten

 

Embleme, Logos, Piktogramme flankieren massenhaft die urbane Alltagswirklichkeit. In ihrer Eigenschaft als sinnverkürzte, allgemein verständliche Symbole versuchen sie den – meist automobil gesteuerten – Passanten auf schnellstem Wege zu seinem Ziel zu bringen. Scheinbar verlässlich führt uns damit der vorprogrammierte Routenplaner und andere Navigatoren den Orten unserer Bestimmung zu, verstünden wir vor lauter Schilderwald die Zeichen auch nicht mehr. Selbstoptimiert und tunlichst hoch erhobenen Hauptes pflegen wir so pfeilschnell durch immer weiter durchrationalisierte Welten zu gleiten, die uns zurückgelegte Wege, Zeit und Endlichkeit vergessen machen möchten: Alles glänzt, so schön neu.

Einen anderen Weg hat dagegen Klaudia Dietewich eingeschlagen. Sie heftet bewusst den Blick auf den Boden und registriert auf ihren großräumig angelegten Kartierungen in dokumentarischer Exaktheit dabei die Materialbeschaffenheiten der realen Benutzeroberfläche Straße und Fassade, Asphalt und Beton, Glasbaustein und anderer Stoffe, über die oder entlang derselben sie sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewegt. Wenn im Allgemeinen die beschrittenen und befahrenen Untergründe nicht oder höchstens mittelbar – als neu oder aber mit Schlaglöchern versehen den Transportkomfort beeinträchtigend, in hellem Grau oder teerschwarz erscheinend – wahrgenommen werden, da sie Mittel zum Zweck (der Fortbewegung) darstellen, unterzieht Klaudia Dietewich sie in ihren Foto-Arbeiten sehr viel intensiveren Studien.

Mit jeder Innutzungnahme nämlich neu angelegter Wegebeläge und öffentlicher Flächen durch den Menschen setzt zwangsläufig auch deren Vernutzung und vermeintliche Beeinträchtigung ein. Den zuvorderst makellosen Oberflächen werden im Laufe der Zeit bekanntlich Bezeichnungsspuren zugefügt, die – einer Archäologie des Alltags gleich – Aufschluss über deren zeitgenössische Nutzer und Lebenswelt vermitteln. Abseits aber bloß zivilisationskritischer Untersuchungen richtet Klaudia Dietewich ihr Augenmerk auf die eigensinnlichen Qualitäten des in der Regel leicht Übersehenen und Unbeachteten und überträgt diese in komplexe Bildsysteme.

Mitnichten ist da Straße gleich Straße, Asphalt gleich Asphalt, Landebahn gleich Landebahn. Häufig Schicht über Schicht angelagert, Fehlstellen ausgebessert und ergänzt, stehen körnig poröse Oberflächen reflektierenden Glätten gegenüber, Fahrbahnmarkierungen und versehentlich Verschüttetes, Verlorenes, Verblichenes ergeben unterschiedlichste Tonwerte und eine – allem Unaussprechlichen gleich –betörend schöne Kalligrafie des Behelfsmäßigen. Erst einmal aufmerksam in die von der Künstlerin entwickelten Serien von Foto-Arbeiten eingesehen, klären sich die zugehörigen Topografien des Untergrundes schnell. Vor allem aber offenbaren die häufig in extremer Nahsicht gezeigten Ausschnitte auf beeindruckende Weise, dass wir – so wir sie denn auch zu beachten und betrachten gewillt sind – jeden Tag auf Schritt und Tritt offenbar mit Bezeichnungsspuren und damit sowohl mit allgegenwärtigen Zeichnungen überhaupt als auch mit einem ständig fortlaufenden Text insgesamt befasst sind, der unter uns ausgebreitet zu lesen ist und den uns jene Arbeiten augenfällig ins Bewusstsein rücken.

Diese Lineamente des Zufälligen speisen mit ihrer Varianz und ihrem Formenreichtum  die Imagination auf ungeahnte Weise. Schlieren, Tropfengebilde, marmorierende Lavuren, Risse, Kratzer, Abplatzungen, gleichmäßige Maschenstrukturen oder ungebärde gestische Krakel und Abdrücke erreichen ihre darin höchst malerische Ausdrucksfähigkeit allerdings erst, indem Klaudia Dietewich sie im Fokus ihrer Beobachtungsgabe – naturwissenschaftlich biologischen Präparaten ähnlich – isoliert hat. Nicht nur erhebt sie auf diese Weise leichthin zu Übersehendes und Nebensächliches als bildwürdig und entledigt sich damit kurzerhand der Funktionalisierung von Werkstoffen und Oberflächen. In der vollständigen Konzentration auf die reine Form, die Faktur der Linie, die Strahlkraft der Farbe löst sie vielmehr das gefundene Gesehene aus seiner Ursprungsgeschichte – und damit aus jedwedem Anekdotenhaften einer je abgeschlossenen individuellen Dingebiografie – heraus.

Mag man hier auch eine gewisse geschichtliche Kontaminierung des öffentlichen Raumes zugestehen – schließlich wurden die Straßen bis dahin ungezählte Male befahren, die Wege immer und immer wieder neu begangen –, angesichts all der unbekannten Passanten und Akteure auf der Bühne des beiläufigen Vorübergehens müssen ihre Orte jedoch als historisch gänzlich unbedeutsam gelten. Einem zweckgebundenen Kontext vorbehaltlos entnommen spielt es nun schließlich keine Rolle mehr, ob die magistralen Flecken, Flächen oder Schraffen auf die Ausbesserungsarbeiten einer Baukolonne zurückgehen, vielleicht Relikte von Bremsspuren oder gar eines einmal angefahrenen Wildtieres darstellen, Anzeichen gesellschaftlich geächteter Umweltzerstörung und eines unnützen Landschaftsverbrauchs sind. In den Bildwerken von Klaudia Dietewich haben sie sich demgegenüber zu selbstsinnigen Bestandteilen mehr oder weniger ungegenständlicher Kompositionen verwandelt, die uns unter Aufbietung mannigfacher Assoziationspotentiale unwiderstehlich in ihren Bann ziehen.

Im Hinblick aber auf die Teilhabe der vielen Unbekannten, Fahrzeuge, Maschinen, Pneus und Gummisohlen, von Begebenheiten, Vor- und Unfällen, die sich auf den aus dem Zusammenhang gerissenen Arealen und Baukörpern zugetragen und die über die Zeitläufte hinweg letztlich erst Augenfunde ermöglicht haben, könnten im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffes beinahe Parallelen zur (wenngleich zweidimensionalen) sozialen Plastik gezogen, mindestens jedoch von einer quasi partizipatorischen Konzeption dafür gesprochen werden. Die Arbeiten von Klaudia Dietewich bestechen aber im Gegenteil gerade dadurch, dass sie den Betrachter über die je verschiedenen Anteile des Gemachten und des Zufälligen, von Klima und Verwitterung, von Naturgewalt und Technik im Unklaren lässt. Mehr noch wirken die von ihrer Bild(er)finderin ausgelösten Weg-Stücke trotz aller offenbar menschlichen Autorenschaft zugleich wie nicht von Menschenhand gemacht und beanspruchen auf diese Weise zurecht eine ikonische Transzendenz.

Noch selbst die eindeutig von einzelnen Menschen aufgebrachten Markierungen auf Fahrbahnen nehmen in diesen Arbeiten den Charakter überzeitlicher, geheimer Codierungen an. Als mit der Zeit allmählich blasser werdende Asphalt Tattoos führen mal Erinnerungsspuren zu teilweise ganz banalen Anweisungen (Messpunkte, Bohrstellen, Maßangaben oder Richtungspfeile für den Straßenbau) zurück, deren Sinn und Zweck allerdings (wenigstens von Laien) nicht mehr zu erschließen ist. Mal sind es andererseits sehr persönliche Parolen – die Verfasser namlos wie auch deren Adressaten –, die höchstens ungefähre Ahnung des Gesagten und Gemeinten hinterlassen. Gerade aber in der Öffentlichkeit verschriftete Botschaften drücken in der Regel ja leicht verständliche, allgemein gültige Hinweise aus: Gebote und Verbote, Kennzeichnungen des Bemerkenswerten oder etwa Werbung anderer Art.

Das unbesehen Nebensächliche zur Hauptsache erklärt – als bildwürdig gar auserkoren – erhalten an dieser Stelle jedoch Bruchstück, Einzelzeichen, Farbklecks, Lineatur Autonomie. Jenseits der gängigen Points of Interests, die auf den ausgetretenen Trampelpfaden der Konvention nur noch zu Altbekanntem führen, erscheinen so den aus eigener Kraft und Antrieb erkundeten Wegen und Orten Denkmale – bei Klaudia Dietewich besser: Seh!Male – errichtet, die Künstlerin und Publikum zu immer neuen Expeditionen anzuhalten wissen. Die Perspektiven verrückt, Gangarten und Blickwinkel dem Geläufigen entwöhnt breiten sich so aus der mikroskopischen Nahsicht heraus exotisch anmutende Bildlandschaften aus, die doch gleichzeitig aus der Formenvielfalt wiederum des Alltäglichen gespeist erscheinen.

Den Perspektivenwechsel – das Flächige des Erdbodens heraufgesehen, im Kamerablick gedreht und im Print anschließend in weite Horizonte ausgedehnt – verstärkt die ungeheure räumliche Tiefe zusätzlich, die diesen Arbeiten eigen ist. Erst noch von starken haptisch-sensuellen Reizen angezogen, das Glatte, das Rauhe, Sandiges, metallisch Schimmerndes handgreiflich auch befühlen zu wollen, bilden die sorgsam gewählten Bildausschnitte, Blickwinkel und Vergrößerungen der simulakren Materialverschichtungen erstaunliche Raumstaffelungen aus. Im vermeintlichen Widerspruch zu den eigentlich vorliegenden und herangezoomten Sujets material verdichteter Wegbeläge und verblockter Wandfassaden öffnet sich darin eine nachgerade panoramatische angelegte Peinture, die leichthändig an jahrhundertealte Traditionen der Landschaftsmalerei anzuknüpfen vermag. Aus steinernen Schweben erwachsen so urwüchsig widerständige Zeichenvegetationen, die die Straßenhimmel und andere nur vorgebliche Unwegbarkeiten (sic!) um uns herum in ein neues Licht einzutauchen verstehen.

Clemens Ottnad, Stuttgart, 2016

Aufsichten

Architektenkammer Baden-Württemberg/Stuttgart, 21. September 2010

 

In ihrem Einladungstext zu dieser Ausstellung von Klaudia Dietewich, meine sehr geehrten Damen und Herren, spricht Carmen Mundorff von Urlaubsbildern der etwas anderen Art. Gestatten Sie mir bitte, dass ich einen Augenblick lang bei diesem Thema verweile und Sie frage: Waren Sie in diesem Sommer, in diesen Frühherbst weg? Im Sinne von: Ich bin dann mal weg? Waren Sie verreist? Waren Sie in Urlaub?

Mit dem Reisen ist das ja bekanntlich so eine Sache. Mit einigem Fug und Recht kann man wohl sagen, dass der letzte echte französische Reisende Henri Beyle war, der unter dem Namen Stendhal einige Romane schrieb, die zur Weltliteratur zählen und im Gefolge Napoleon Bonapartes u. a. Oberitalien, nicht zuletzt die Gegend um den Comer See bereiste. Dort, wo Stendhal sich als Abenteurer, Lebemann und Geistesverwandter Goethes auf Spurensuche begab, Land und Leute kennenlernte, die Adligen der Region auf ihren Gütern, in ihren Villen besuchte, mit ihnen lebte, bei ihnen logierte und zusammen mit ihnen rauschende Feste feierte, suchte nur wenige Jahrzehnte später Gustave Flaubert lediglich Sehenswürdigkeit um Sehenswürdigkeit auf, hakte, klapperte sie ab, „machte“ gewissermaßen Oberitalien wie wir in unserer Sommervakanz, die keine mehr ist, heutzutage Südamerika oder Australien „machen“. 
Kurzum: An die Stelle des Reisenden ist seit langem der Tourist getreten.

Seit einigen Jahren wissen wir freilich, dass sich der Strand nicht nur am überfüllten Teutonengrill zwischen Rimini und Caorle befindet, sondern auch gerade mal um die Ecke, unterm Pflaster bzw. unterm Asphalt, und so trifft es sich gut, dass uns Klaudia Dietewich mit ihren „Aufsichten“, mit ihren Fotografien an die Hand nimmt und uns zu einer Spurensuche, zu einer visuellen Reise der ganz besonderen Art einlädt.

Denn Reisen, das beweist die Künstlerin mit ihrer Arbeit, kann man, wenn man will, auch heute noch. Man muss nur den guten, alten Leitsatz Goethes „man sieht nur, was man weiß“ einmal außer acht lassen und einen unvoreingenommenen, frischen Gebrauch von seinen Augen machen, was ja auch, en passant bemerkt, nicht ganz unwichtig für die Beurteilung architektonischer Fragen ist. Denn letztlich gilt in gleicher Weise die Umkehrung:
Man weiß nur, was man sieht bzw. was man gesehen hat.

Aber zurück zu Klaudia Dietewich und ihrer Arbeit. Frau Dietewich ist eine passionierte Reisende, nur ist sie nicht als Pauschaltouristin mit Flugzeug, Zug, Schiff, Bus oder Auto unterwegs. Und sie richtet ihren Blick auch nicht auf das Gesicht von Städten, Seestücken, Landschaften oder auf andere sogenannte Sehenswürdigkeiten, die man als Tourist oder Touristin zu kennen hat, sondern strikt nach unten auf scheinbar Nebensächliches, auf das, was normalerweise buchstäblich unter die Räder gerät.

Die Künstlerin ist eine leidenschaftliche Radfahrerin, die sich bewusst und mit Begeisterung immer wieder Wind und Wetter, Sonne und Regen aussetzt und die mit ihrem Fahrrad schon halb Europa, von Portugal bis nach Skandinavien und Polen, durchquert hat. Bei solchen Reisen blickt sie ins Angesicht der Straße, fotografiert sie mit ihrer Digitalkamera die Straßen, auf denen sie unterwegs ist, sie nimmt Straßenspuren auf, Verformungen des Belags, Rillen, Kratzer, Verfärbungen, Bemalungen etc., und unternimmt damit recht eigentlich nichts anderes als das, was der Ich-Erzähler zu Beginn des neuen, äußerst lesenswerten Romans von Martin Mosebach folgendermaßen beschreibt (ich zitiere): „Spuren nachgehen, Indizien sammeln, um sich daraus ein Bild verborgener Vorgänge zu machen, sich in versteckte Verhältnisse, die nur in winzigen Erschütterungen an die Oberfläche der Wirklichkeit gelangen, hinein zu fantasieren, das war mein verantwortungsloses und selbstverständlich ganz planlos betriebenes Vergnügen.“ (Ende des Zitats)

Planlos allerdings geht die Künstlerin nicht vor. „Straßen sind seit altersher“, sagt Klaudia Dietewich, „die Lebensadern jeder Gesellschaft, jeder Zivilisation. Die Straßen, die ich befahre, sind aber nicht nur Funktionsträger, sie sind vor allem ein zentraler Schauplatz des Lebens. Hier ereignen sich Begegnungen, Zusammenstöße, Unfälle; Dramen und Geschichten spielen sich ab, das Leben selbst. Straßen sind ein Spiegel des Lebens. Und Straßen verändern sich, sie nutzen sich ab, sie werden beschädigt, repariert, bemalt, gekennzeichnet. Spuren finden sich hier, vergängliche Spuren menschlicher Präsenz, Momentaufnahmen, die sich kontinuierlich verändern, die verblassen, die mehr oder weniger schnell wieder verschwinden. Spuren, die etwas über ihren Verursacher verraten, die Geschichten erzählen und Bilder erzeugen von den Orten, an denen sie gefunden wurden.“

Die Straße also als Spiegel und Bühne, und die Fotografin als Geschichtenerzählerin. La strada: Es nimmt wunder, dass sie nicht schon viel früher zu einem zentralen Thema auch der Bildenden Kunst wurde. Wenn aber Straßen Schauplätze des Lebens sind, Lebensadern, in denen unsere Existenz bis in die Kapillargefäße hinein pulst und pulsiert, dann kann man Klaudia Dietewichs Fotoreisen mit dem Rad durchaus auch als eine Lebensreise (im Wortsinn) begreifen, auf der sie dem Leben selbst nachspürt: dem Leben unserer Gesellschaft, eines Kollektivs, aber auch ungezählter Individuen.

Doch mit dem Unterwegssein ist es nicht getan. Wieder zuhause, beginnt die Künstlerin dann damit, ihre Reisemitbringsel, die digitalen Fotos, zu bearbeiten und durch die Wahl des Ausschnitts und den Grad der Vergrößerung zu verändern. Schließlich werden sie auf Metallplatten übertragen. Aus den fotografischen objèts trouvés entstehen so Kunstwerke. Indem Frau Dietewich die scheinbar banalen, kruden Fotofunde transformiert, verleiht sie ihnen eine neue Qualität. Die Wirklichkeit wird distanziert, wird abstrahiert, aus Flicken und Flecken, Kratzern und Krakeln werden Strukturen, entsteht grafische Poesie, die freilich alles andere als sinnfrei ist.

Das existenzielle Substrat, die Straße mit all ihren Spuren menschlichen Daseins und Soseins, bleibt stets implizit, und so lädt uns das Werk von Klaudia Dietewich nicht nur zu einer Reise im Kopf ein, dazu, Spuren nachzugehen, und seien sie noch so unscheinbar und klein; die Künstlerin lädt uns nicht nur dazu ein, quasi kriminalistisch Indizien zu sammeln, damit wir uns daraus ein Bild verborgener Vorgänge machen können, sondern, und das ist möglicherweise der wichtigste Aspekt ihrer Arbeit, sie legt uns ähnlich wie Marcel Proust nahe, uns auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben, indem wir uns den grafischen Spuren auf ihren Bildern aussetzen. Ihre Fotoreisen ermächtigen uns zugleich zu einer Zeitreise.
Oder möglicherweise springt der Funke auch unmittelbar auf uns über und wir lassen uns, in einem zweiten Schritt, von ihren Arbeiten dazu inspirieren – im Kopf bzw. ganz real -, wieder einmal die Straßen unserer Kindheit und Jugend mit wachen Augen zu begehen oder zu befahren. So wie Proust die verlorene Zeit primär auf den von ihr zerstörten Gesichtern seiner Bekannten und Freunde wiederfindet, die zu Greisen geworden sind, so sind auch die Fotografien von Klaudia Dietewich – neben vielem Anderen – eine Einübung in das Bewusstsein der Vergänglichkeit. Denn was wäre vergänglicher als das Gesicht der Straßen, als die Spuren, die wir tagein, tagaus auf den Chausseen dieser Welt hinterlassen bei Begegnungen, Karambolagen, auf Reisen oder nur auf dem Weg nach Hause: Bremsspuren, Blut, der Abrieb unserer Reifen oder die Kreide, die wir als Kinder beim Himmel – und – Hölle – Spiel benutzt haben?
Wenn Klaudia Dietewich also letztlich die Vergänglichkeit, die Flüchtigkeit unserer Lebensreise und unsere eigene Verletzlichkeit in den Blick nimmt, so schärft sie uns gleichzeitig die Augen für den Wert des Augenblicks, für die Freude am Dasein. Ihr Werk vermittelt uns Aufsichten auf uns selbst. Die Beschäftigung mit ihren Arbeiten gibt uns – so überraschend dies auch anmuten mag – in den Worten Arthur Schopenhauers, dessen 150. Todestag wir heute begehen, ein Stück weit „uns selber zurück“. Ich danke Ihnen!

Dr. Jürgen Glocker, Kulturreferent Landkreis Waldshut

Der Traum vom Raum.

Klaudia Dietewich, Galerie des Wilhelm-Lehmbruck-Museums Duisburg-Rheinhausen 2015

 

Von Zeit zu Zeit und an den unterschiedlichsten Orten drängen sich einem Bilder ins Auge, ins Stammhirn, ins Sprachzentrum – diese Bilder, die vom Raum träumen. Davon, Menschen aus der Ebene in die Tiefe bislang marginalisierter und daher unbekannter Welten, mithin in die dritte Dimension, hineinzubefördern. Diese Menschen sollten ihre Blicke auf Wanderschaft schicken dürfen, ihre Perspektive selber bestimmen, die immer schon vorhandene und doch so fremde Umgebung anschauen können, sich vom Abenteuer des Sehens selbst mitreißen lassen. 
Auf diese Seh-Wege legt es Klaudia Dietewich in ihren fotografischen Arbeiten an, und nur Fundamentalisten möchten sich darüber wundern, dass jene Take-Offs in den Raum von einem so fundamentalen und flachen Startpunkt ihren Ausgang nehmen: flach im Sinne von niedrig (was uns topografisch schon ins Auslaufgebiet von Rhein und Ruhr führt), flach aber auch im Sinne von banal.

Denn im Bildwerk Klaudia Dietewichs geht es zunächst einmal um wenig mehr als um – Bodenbeläge. Straßenschäden, Löcher und Krater im urbanen Geläuf, Ausbesserungsarbeiten, Asphaltpigmente, Teerverfüllungen. Amalgamierte Benutzeroberflächen für unsere Füße und Fahrzeuge. Immer so passungenau, immer Patchwork, sich jedem ästhetischen Mehrwert verweigernd, jedem tiefbaulichen Masterplan hohnsprechend, reine Aleatorik. Eine vom Systemgedanken verlassene, auf sich selbst geworfene Improvisation. So unkalkulierbar und behelfsmäßig, so unbeachtet und flüchtig, dass die Titel selbst den fotografischen jour fixe noch notieren müssen: Bochum, Zeche Hannover, 5. August 2014, 13:44 Uhr; Marl, Römerstraße, 8. August 2014, 14:26 Uhr; Duisburg, Karl- Lehr-Brücke, 1. August 2014, 17:40 Uhr. Nebensächliches, Übersehenes wird so zumindest zu einem buchhalterischen Statistikum.

Wer mag, kann die Motive des Brüchigen und Gebrochenen, des Deformierten und notdürftig Geflickten als Relikte und Spurenelemente, als Signale und Indizien schon zurückgelegter, mal zielsicherer, mal irrtümlicher, bald abgebrochener, bald eingelöster Wege nehmen. Wer mag, kann in jenen Motiven auch neue Schönheit, nämlich die des Mangelhaften, Oberflächlichen, Ephemeren entdecken, die sich aus ihren Parallelen zu unserer conditio humana speist. Wer mag, interpretiert in jenen Motiven metaphorisch die Verwandlungsfähigkeit und Veränderungsbedürftigkeit des Lebens schlechthin. Wie auch immer, jene Bilddeuter ständen in jedem Fall auf geschütztem Grund und Boden, denn so oder ähnlich reklamiert auch der Künstlerin Selbstwahrnehmung ihr ausgestelltes Werk. Und wer Bildgeschichtliches bevorzugt, ruft selbstverständlich die Spurenkonservatoren der modernen Avantgarde in Erinnerung, deren revolutionäre Bearbeitung vormals kunstferner Materialien und Sujets schon längst eigene Spurencluster, von Max Ernsts Frottagen über Bildkonzepte des Suprematismus bis zu Jean Tinguelys Métamatics, eingezogen hat und in der sogenannten Land-Art eines Andy Goldsworthy oder eines Richard Long wohl noch lange kein Ende findet. Auch auf diese Parallelen zum Werk Klaudia Dietewichs ist an verschiedenen Katalogstellen bereits aufmerksam gemacht worden.

Soll indes der Traum vom Raum weiter imaginiert werden, wäre nunmehr auf die künstlerische Gestaltung und Präsentation der Ablichtung hinzuweisen, die bei Klaudia Dietewich immer eine ästhetische Metaebene (eben jene mit dem Titel der Ausstellung versprochenen »über wege – über reste – über tage«), quasi einen Überstand und Überfluss aufweist und genau darin die Verräumlichung des Bildes bewerkstelligt. Die Kamera nimmt – in mindestens zweifachem Sinn – das parterre gelegene Motiv auf und transferiert es – in Größe, Ausschnitt, Farbe und Fokus justiert und auf Alu-Dibond gebunden – an die Wand, das heißt in die Orthogonale. Der dichte Behang formatgleicher Objekte besorgt seinerseits jene Skalarmultiplikation, die dem an der horizontalen Abszissenachse entdeckten und aufgegriffenen Bild nun noch eine Applikatenachse hinzufügt und einen ganzen Vektorraum öffnet. Dieses Prinzip der Analytischen Geometrie wendet Klaudia Dietewich vorzugsweise auch dort an, wo sie das Bild auf die nach oben zeigende Teiloberfläche eines Kubus oder Quaders platziert und es so dreidimensional unterfüttert. Assemblagen jener Bildkörper stecken sodann eine road map ab, auf dem die vormaligen Bodenabriebe sich als nunmehr beglaubigte und identitätsstiftende Landmarken und ›Weg-Stücke‹ neu formieren, wo sie sich bisweilen auch als ›Um-Wege‹ zu erkennen geben.

Flickenteppich, Tapetenmuster, Glieder und Fragmente gelebten Lebens als multiversales Ereignis von anthropologischer Relevanz. Wie wenn das Universum Blasen schlägt. Flach im Sinne von niedrig, flach im Sinne von banal, aber alles andere als eine flächige Bildauffassung. Schon mag man an Stephen Hopkins‘ Science-Fiction-Klassiker Lost in Space von 1998 denken, dabei hätte Klaudia Dietewich durchaus eigene Film-Loops im Angebot: Céreste (2009), Tempelhof (2010), Café Immortale (2011) oder Underground (2014).

Doch von der Video-Installation zurück zur Raum-Installation: Für ihren Zyklus Himmel und Hölle holt sich die Künstlerin das Motivmaterial gar aus dem Souterrain (oder, wie man in unseren Breitengraden sagt: Unter Tage). Es entstehen Bildkompositionen aus der ehemaligen Sinterhalle des 1873 in Betrieb genommenen und 1986 stillgelegten Eisen
werks im saarländischen Völklingen, der sogenannten Völklinger Hütte. Sinter bildet sich durch Kristallisation von in Wasser gelösten Mineralien; hier handelt es sich um jenes Eisenoxidgemisch, das in der Stahlindustrie beim Kontakt heißer Stahloberflächen mit Spritzwasser entsteht. Diese Rostpartikel choreografiert Klaudia Dietewich zu neun deckenhohen und von hinten beleuchteten Pigmentdrucken auf transluzenten Backlit-Planen, die sie wie die Glasfenstermalerei einer kathedralischen Apsis anordnet. War nun aber die gotische Kathedrale ein architektonischer Bedeutungsträger der christlichen Ideenwelt, so gibt es auf der Fotostellage Klaudia Dietewichs weder ein bildlogisches geschweige denn ein heilsgeschichtliches Linearium. Die Erzählung bleibt ganz jener Rost-Ablagerung vorbehalten, die auf das Sintern selbst, mithin auf die Herstellung von Werkstoffen verweist; hier auf die Produktion der Stahlhelme für die deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs. In künstlerischer Tateinheit mit dem Bach-Choral O Ewigkeit, du Donnerwort und dem ihn übertönen- den Maschinenlärm der Sinterhalle entwickelt sich bisweilen eine mediale Synopse, die den angedeuteten Kirchenraum eher infernalisch als himmlisch umschließt. Aber geht es Klaudia Dietewich wirklich um einen historischen Realismus?

Da fällt mir gerade auf, dass Sie, meine Damen und Herren, bisher noch gar nichts zu lachen hatten, obwohl meine Ausstellungseröffnungs-Ansprachen, auch hier in Rheinhausen, in dem Ruf stehen, bisweilen humorig zu sein. Aber erstens ist Humor nicht nur Comedy oder Mystery, sondern besitzt einen unverzichtbaren Wunsch-, einen Traum-, eben: einen phantasmagorischen Appeal, einen Illusions-Raum, in den der Mensch entführt, verstrickt, in dem er getäuscht, ja betrogen und verraten werden will, vielleicht um das reale Leben überhaupt aushalten zu können; und zweitens – wird es ja eventuell noch was.

Anlass zu solchem Gelächter könnte vielleicht das dritte Werkkapitel dieser Ausstellung geben. Auf zwei dünnen Edelstahlplatten à 150 x 50 cm zeigt sich unter dem Titel Paris, Rue Clotilde, 3. April 2013, 15:15 Uhr auf weniger als einem halben Meter Höhe eine in blauer Schönschrift (im Windows-Universum heißt sie ›Künstler Script‹!) verfasste Signatur »regarde le ciel«. Sicher entbehrt es nicht einer gewissen Komik, dass Passanten, um jener Aufforderung überhaupt gewahr werden zu können, den Blick, statt nach oben zum Himmel zu richten, zunächst mal auf den Boden absenken müssen. Unweigerlich kommt Magrittes berühmtes Bild in den Sinn, das eine hyperrealistisch gemalte, fast schon stilisierte Pfeife mit der Subskription versieht: »Ceci n’est pas une pipe.« Die Arbeit von 1929 trägt den Titel La trahison des images, und eben um jenen Verrat der Bilder geht es. Denn bei der künstlerischen Darstellung handelt es sich natürlich nicht um eine tatsächliche Pfeife, die sich stopfen, rauchen und reinigen ließe, sondern um das Öl-Bild einer Pfeife, das mit seinem Objekt selbst nicht identisch ist, kurzum: in der Kunst wie im ›richtigen Leben‹ können Sache und Zeichen völlig auseinanderfliegen (ein Umstand übrigens, der schon die Literaten des 18. Jahrhunderts, namentlich Jean Paul, umtrieb), gehört zum Kunstwerk eine surrealistische Psychologie, die den Betrachter, seine Sinneswahrnehmung falsch interpretieren und wunschtraumgemäß über sich selbst täuschen machend, das Dargestellte als Wirklichkeit erleben lässt.

Selbstverständlich könnte hier auch der Vertigo-Effekt (benannt nach Hitchcocks unübertreffbarem Filmepos) eingeworfen werden, der den Zwang und das schwindel- erregend Zwanghafte jenes Spiels mit Identitäten vorführt, bei dem das Bild allein noch als Illusion weiterleben kann, ohne seine längst verblasste oder unscharf gewordene Realität zur Kenntnis nehmen zu müssen, ja überhaupt zu dürfen.
Wo Magritte und Hitchcock das Beziehungsgeflecht zwischen einem Objekt, seiner Bezeichnung und seiner Repräsentation ausloten und
den Betrachter mit der kaum mehr als noch fragilen Realität eines Gegenstandes konfrontieren, liegt bei Klaudia Dietewich die Pointe gleich um die Ecke. Ihre Fotografie erfasst die Spuren und Indizien des Motivs und führt sie auf, ihre Fotografie dirigiert den Blick des Betrachters, ihre Fotografie verwebt Geschichten zu einer Erzählung, die den Betrachter nicht kalt lassen kann und ihn vielmehr animiert, ja fast schon zwingt, ihre Zufalls-Künstlichkeit für wirklich und wahr zu halten. Damit erzählt die Künstlerin auf keineswegs mehr banale, sondern raffinierte Weise etwas über die Fotografie selbst, über die Manipulierbarkeit des Sehens, nicht zuletzt über die Verführbarkeit ihres Betrachters. Und sie erzählt, den Traum des literarischen 18. Jahrhunderts in neuem medientechnschen Look wiederaufnehmend, viel über die metaphorische Schwebe des Bildes zwischen seiner Bestimmtheit und Robustheit in der Realität und seinem fiktionalen und traumwandlerischen Überfluss als Illusion.

Zur Erinnerung: Klaudia Dietewichs Bilder träumen den transversalen und spieltriebpsychologischen Traum vom Raum, der auf diese Art sie und sich in die Wirklichkeit überträgt (gr. meta-phoréō: übertragen, übersetzen, transportieren, verlängern): über wege – über reste – über tage. Gleich unter ihren Füßen: der Abgrund der Hölle. Der Himmel indes beginnt bereits auf Kniehöhe. So, meine Damen und Herren, jetzt dürfen Sie aber wirklich mal schallend lachen.

Dr. Thomas Maier, Kleve, 2015

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